Versuch einer Einordung der Ukraine/Russlandkrise

Hier ein paar Aspekte unsererseits zur aktuellen Lage in der #Ukraine. Wir glauben, dass für die Bewertung und Einordnung der aktuellen Geschehnisse ein Blick auf die Vorgeschichte des inter-imperialistischen Konfliktes nötig ist. Dieser Konflikt nahm seinen Anfang nicht erst 2014, sondern mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991. Somit geht es nicht nur um eine Auseinandersetzung zwischen der Ukraine und Russland, sondern auch um einen »geopolitischen Konflikt unter US-amerikanischer und westeuropäischer Beteiligung« (Ingar Solty, RLS). Nichtsdestotrotz stellt das aktuelle Agieren Russlands eine imperialistische Aggression und eine neue Eskalationsstufe im Ukraine-Konflikt dar.

Eine Weiter Eskalationsstufe ist erreicht

Putin hat per Dekret die selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk anerkannt und daraufhin Truppen dorthin entsendet. Damit wurde eine neue Stufe der Eskalation um die Ukraine eingeleitet.

Die weitere Eskalation des bereits seit 2014 andauernden Krieges in der Ukraine ist eine Katastrophe – vor allem für die ukrainische, aber auch russische Bevölkerung und nicht zuletzt für alle Menschen in Europa. Sie muss auf jeden Fall gestoppt werden. Putin konstruiert in seiner Rede eine nationalistische Erzählung Großrusslands in der die Ukraine unweigerlich um ihre Existenz fürchten muss. Der geplante Einmarsch russischer Truppen ist zu verurteilen. Jedoch folgt daraus nicht, dass wiederum die NATO-Interessen rechtens sind. Beiden Seiten galt die ukrainische Selbstbestimmung bisher nur für die eigenen Interessen. Wichtig ist, dass die von der bürgerlichen Politik und den Medien geforderte Positionierung auf eine der “beiden Seiten” lediglich einer Logik imperialistischer Kriege folgt. Daher sollten wir uns nicht auf die Seite von Staaten oder Militärbündnissen stellen, sondern die Perspektive der Menschen einnehmen, die am meisten unter diesem Konflikt leiden.

Undifferenzierte Feindbilder und Schwarz-Weiß-Denken helfen nicht weiter, weder um die Eskalation zu verstehen, noch zu verhindern. Die russische Staatsführung ist zwar im Moment eindeutig der Aggressor, die NATO-Staaten tragen aber die Hauptschuld daran, dass die aktuelle Konfrontation in Osteuropa überhaupt erst entstehen konnte. Sie haben nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bewusst darauf verzichtet, Russland in westliche Bündnisse zu integrieren. Man hat auf eine Auflösung der NATO verzichtet, sie stattdessen zu einem Interventionsbündnis umgebaut und Stück für Stück nach Osten erweitert. Statt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der russischen Gesellschaft einen eigenen Weg zuzugestehen, hat man die Privatisierung der Wirtschaft mit vorangetrieben bzw. große Teile davon zerschlagen. Ziel war es, neue Absatzmärkte für westliche Unternehmen zu erschließen und Russland zu einem international bedeutungslosen Rohstofflieferanten an der Peripherie des globalisierten Kapitalismus zu machen. Das wurde von einem großen Teil der Bevölkerung als historische Demütigung empfunden.

Ohne die russische Elite aus der Verantwortung nehmen zu dürfen war der Westen Vorreiter von neoliberaler Privatisierungspolitik. Diese ist wesentliche Ursache dafür, dass in Russland eine der ungleichsten Gesellschaften der Welt entstehen konnte. Während ein winziger Teil der Bevölkerung unfassbar reich geworden ist, war der Großteil der Bevölkerung in den 90ern mit existentieller Armut und sozialem Elend konfrontiert. In dieser Situation konnten sich mafiöse Strukturen entwickeln, die eng mit dem Staat verflochten waren bzw. diesen z.T. ersetzten. Teile davon bestehen bis heute. Vor diesem Hintergrund ist ein berechtigtes Misstrauen in der russischen Gesellschaft entstanden, das den Hintergrund für die konfrontative Politik Putins gegenüber dem Westen bildet.

Die Popularität Putins sollte aus diesen Umständen heraus erklärt werden. Er wusste die Situation zu nutzen, um Menschen hinter sich zu sammeln. Unter ihm trat Russland  international selbstbewusster auf, was in der russischen Bevölkerung angesichts der durch den Westen erfahrenen Demütigung der 90er positiv aufgenommen wurde. Repression nach innen und Nationalismus gingen Hand in Hand. Der autoritäre Charakter der Herrschaft in Russland und die Menschenrechtsverstöße sind klar zu kritisieren. Sie dürfen aber nicht als Vorwand für militärische Eskalation dienen. Im Gegenteil sind alle Initiativen zu unterstützen, die die Kriegsgefahr in Osteuropa verringern.

Die westlichen Medien heizen in der Mehrzahl den Konflikt weiter an, indem sie seine Ursachen verschleiern, die russische Position nicht ausreichend darstellen, die Rolle der NATO im Entstehen des Konfliktes aussparen und diplomatische Bemühungen als Schwäche und militärische Drohungen hingegen als Stärke darstellen. 

Aus linker Perspektive ist die praktische Forderung nach einer Auflösung der NATO und der Schaffung neuer Sicherheitsstrukturen unter Beteiligung Russlands nach wie vor aktuell. Erklärtes Ziel dieser Strukturen muss eine stetige Abrüstung sein. Allen voran müssen alle in Europa stationierten Atomwaffen abgerüstet werden. Die Chancen für eine Realisierung dieser Forderung stehen jedoch schlechter denn je zuvor.

Ohne den russischen Einmarsch zu akzeptieren, müssen jegliche kriegstreibenden Reaktionen der NATO sowie Sanktionen, die sich gegen die russische Zivilbevölkerung richten verurteilt werden. Krieg wird immer von und im Interesse der Imperialistischen Staaten und jene, die davon profitieren, geführt und niemals im Sinne der Arbeiter*innen. Der Weg muss zurück an den Verhandlungstisch führen. Wir sollten uns nicht auf die Seite von Staaten oder Militärbündnissen stellen, sondern die Perspektive der Menschen einnehmen, die am meisten unter diesem Konflikt leiden. Somit ist der Rückzug aller russischen Truppen und eine Rückkehr zum Minsker Abkommen notwendig um eine Deeskalation einzuleiten und den Gebieten eine größere Souveränität innerhalb des Ukrainischen Staates zu ermöglichen.

Um diese Forderung wieder in greifbare Nähe zu rücken und auch darüber hinaus handlungsfähig zu werden brauchen wir eine erneuerte selbstbewusste Friedensbewegung, in der linke Kräfte eine führende Rolle einnehmen müssen. Dafür müssen wir die zögerliche Haltung in friedenspolitischen Fragen überwinden, die in einem großen Teil der radikalen außerparlamentarischen Linken existiert. Wir schlagen vor uns auf die Prinzipien der internationalen Solidarität zu besinnen, uns mit unseren Genoss:innen in Russland und der Ukraine solidarisch zu verbinden und gemeinsam der militärischen Eskalation eine breite internationale Bewegung auf der Straße entgegenzusetzen.

Leseempfehlungen:

Gemeinsam für Solidarität. Heute, morgen und zu aller Zeit. (Redebeitrag zum 1. Mai)

Liebe Kommiliton*innen, liebe Kolleg*innen, liebe Genoss*innen und Genossen,

vor drei Wochen hat der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) gemeinsam mit dem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ein Gesetz erlassen, das vorsieht, systemrelevante Beschäftigte nun bis zu zwölf Stunden täglich arbeiten zu lassen. Das ist eine absolute Zumutung in Zeiten der Corona-Pandemie, wo bestimmte Berufsgruppen sowieso schon bis zum Anschlag arbeiten müssen. Zu sagen: ‘Ihr müsst noch länger arbeiten und an Ruhephasen sparen’ – das ist eine zynische und zugleich gefährliche Maßnahme. Diese Entscheidung versucht in erster Linie, Missstände zu kaschieren, die durch jahrzehntelange Politik der Profite, Personalkürzungen und Arbeitszeitverdichtung herbeigerufen wurden.

Der 8h Tag ist eine elementare Errungenschaft der historischen Arbeiter*innenbewegung und nun meint ein Minister der SPD, diese von heute auf morgen einfach absägen zu können? Wir sagen daher: Weg mit dieser Regelung! 12h-Schichten kosten Menschenleben! Denn es gibt einen Zusammenhang zwischen der Länge von Arbeitsschichten und der Überlebenswahrscheinlichkeit von Patient*innen und der Ansteckungswahrscheinlichkeit von Krankenhaus-Mitarbeiter*innen. Stattdessen muss nun die Frage des Gesundheitsschutzes aller Beschäftigten an erster Stelle stehen und nicht die noch intensivere Belastung von Beschäftigten, die sowieso schon unter Hochdruck arbeiten müssen!

Vereinzelung vs. Protest

Die Wut auf Spaziergänger*innen und Freundesgruppen, die sich immer noch draußen aufhalten, ist groß. Wir finden Wut wichtig, doch sind wir doch lieber wütend auf diejenigen, die unser öffentliches Gesundheitssystem seit Jahrzehnten demontiert haben. Die, die zuerst Schulen, KiTas, Unis, Kultur- und Musikveranstaltungen schließen lassen, während Fabriken, Logistik-Zentren und Call-Center munter weiterlaufen dürfen. Steckt man sich etwa nur privat an?

Das führt dazu, dass wir uns gegenseitig demontieren und disziplinieren – die Schuld und Verantwortung der Krise bei den Menschen suchen, denen wir doch eigentlich am nächsten stehen sollten. Es führt dazu, dass wir den Blick fürs große Ganze verlieren, verlernen die Mechanismen einzuordnen, die diese Krise ermöglichen und uns die Ausmaße so ungleich erleben lassen. Und es führt dazu, dass wir verlernen ernsthaft solidarisch zu sein, uns der Probleme anderer Menschen anzunehmen und uns gemeinsam für eine Abschaffung der Verhältnisse, die der Kapitalismus verursacht, zu organisieren. Gerade jetzt müssen wir kollektive Momente schaffen, um der individuellen Isolation entgegenzuwirken. Daher sind Aktionen richtig und wichtig!

Blick zurück

Die Welt steuert momentan sehenden Auges auf eine Wirtschaftskrise zu, die vielleicht alles übertreffen wird, was die Menschheit je erlebt hat. Was dies konkret bedeutet, wie sich unser Leben und die Welt in den kommenden Monaten und Jahren gestalten wird, können wir jetzt noch kaum absehen. Ein Blick auf die Krisenerfahrung von 2008 und den Jahren danach – also die Bankenrettung, die europäische Austeritätspolitik, die massenhafte Prekarisierung der Jugenden in Südeuropa oder die Etablierung des größten Niedriglohnsektors Europas hierzulande – vermitteln uns jedoch eine Ahnung davon, wie tiefgreifend die sozialen Verwerfungen sich die nächsten Jahre in die Leben von Millionen von Menschen einschreiben könnten.

Die Ausgangsbedingungen für eine gesellschaftliche Linke, die für eine gerechtere Welt streitet, hat sich wahrlich nicht verbessert. Doch wir wissen auch, dass soziale Verwerfungen nach 2008 und der Klassenkampf der Merkels, Schäubles etc. von oben von massiven Kämpfen und Bewegungen von unten begleitet wurden, die eine ganze Protestgeneration auf die Bühne der Geschichte haben treten lassen. Ob die Krise 2020 wieder von dem Großteil der Bevölkerung getragen wird oder nicht, wird eine Frage von konkreten Kämpfen bleiben, die in den nächsten Jahren unweigerlich anstehen werden. Kollektiver Widerstand und der Aufbau von Kämpfen mit Durchsetzungsperspektive müssen unsere Antwort sein auf die Krise 2020. Was das bedeutet, wollen wir kurz und knapp an ein paar Beispielen erläutern.

Wer zahlt die Krise?

a) Systemrelevante Berufe

Durch Corona hat sich der Fokus der Gesellschaft verschoben, weg von den Anzugträgern und DAX-Spezialist*innen nach der Tagesschau, hin zu den Menschen die unser System tatsächlich tragen, dafür aber viel zu schlecht bezahlt werden. Neben gesellschaftlicher Aufwertung braucht es reale Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und mehr Gehalt!

Daher schließen wir uns den Forderungen von ver.di an die Arbeitgeber im Handel an: Es braucht einen Tarifvertrag jetzt zum Kurzarbeitergeld, der für alle Handelsbranchen allgemein verbindlich gilt. Ein ausreichender Gesundheitsschutz ist längst überfällig und es darf auf keinen Fall zur Ausweitung der Arbeitszeit kommen!

Es ist jetzt Aufgabe der Gewerkschaften, den Schutz von Leben und Gesundheit ihrer Mitglieder in der Pandemie gegen wirtschaftliche Profitinteressen zu verteidigen. Prämien während der Pandemie sind ein Anfang – aber da geht mehr und wir als Linke sind gefordert, die Anliegen der Beschäftigten zu unterstützen.

b) Haushalt und Care-Arbeit 

Auch die unsichtbare Sorgearbeit, die primär von Frauen geleistet wird, nimmt momentan zu. Die Kitas und Schulen haben geschlossen, sodass die Kinderbetreuung zu Hause stattfinden muss, während oft gleichzeitig der normale Arbeitsalltag oder Home-Office zu meistern ist. Daher fordern wir staatliche Konzepte für die Kinderbetreuung, v.a. für alleinerziehende Mütter und Väter! 

Und wo wir schon bei Haushaltsfragen sind: 

Während Vonovia und Co. weiter fröhlich Dividenden erhöhen und ausschütten, weigern sich Immobilienkonzerne vehement, die Mietschulden ihrer Mieter*innen zu stunden. In der letzten Finanzkrise profitierten vor allem die großen Immobilienkonzerne von der Krise, indem sie danach ordentlich Wohnungen aufkaufen – das wollen und dürfen wir dieses Mal nicht zulassen. Wir finden: Enteignung und Vergesellschaftung von Wohnungen und Häusern, darf kein Tabu mehr sein!

c) Refugees 

Doch unsere Solidarität darf nicht an den deutschen oder den EU-Außengrenzen enden. Die Bedingungen in den griechischen Geflüchteten-Lagern waren schon vor Ausbruch der Pandemie unerträglich. Bei einem Ausbruch von Covid19 wird es dort zu einer humanitären Katastrophe kommen. Und auch die Seenotrettung im Mittelmeer wird von den EU-Staaten aktiv unterbunden. Dabei hat Europa genügend Platz, um all diesen  Menschen ein sicheres zu Hause zu bieten! 

Jetzt heißt es: Konsequent handeln und eine dezentrale Unterbringung von Geflüchteten umsetzen, denn das Recht auf Gesundheitsschutz muss für alle gelten!

d) Klima

In der Krise werden Unternehmen wie VW, Lufthansa und Co. mit Milliarden vom Staat gerettet. So werden Verluste ohne demokratische Einflussnahme vergesellschaftet. Oder haben wir beschlossen, VW und Co. zu retten? General Motors produziert in der Krise Beatmungsgeräte und Volkswagen Atemschutzmasken. Das ist ein kleiner Schritt in Richtung eines bedürfnisorientierten Wirtschaftens. Dann lasst und doch noch ein paar Schritte dazu machen und weiter in den öffentlichen Nahverkehr und erneuerbare Energien investieren! Lasst uns mitbestimmen, welche Produkte und Dienstleistungen wir wirklich brauchen, was und wie wir produzieren wollen! Lasst uns die Krise von denen bezahlen lassen, die durch schlechte Arbeitsbedingungen, Umweltzerstörung und Globalisierung der Wirtschaft mitverantwortlich für viele der Krisen sind! 

e) Studierende

Und wir wollen nicht vergessen: Neben vielen anderen, finden auch wir Studis uns in einer prekären Lage wieder. Wir verlieren Minijobs oder haben schlichtweg nicht mehr genug Zeit, weil wir jüngere Geschwister betreuen müssen. Wer kein BaFöG bekommt, steckt jetzt ohne zusätzliches Einkommen in der Klemme. Und wer es bekommt. muss um die Regelstudienzeit fürchten. 

Die Uni Dresden zeigt wie es gehen kann und legt mit der Aussetzung der Regelstudienzeit vor. Wir sagen: Die Uni Leipzig muss nachziehen!

Krise ist in diesem System immer. Deswegen warten wir nicht bis auf das schreckliche Ende dieser Pandemie. Wir warten nicht darauf, dass noch mehr Menschen durch fehlende Versorgung, schlechte Arbeitsbedingungen und eine autoritäre Antwort der Herrschenden unter der Krise leiden müssen. Wir kämpfen heute gegen voranschreitende Privatisierung, gegen die Eindämmung des sozialen Miteinanders, gegen zunehmendes Konkurrenzdenken in allen öffentlichen Bereichen.

Dafür kämpfen wir heute. Dafür kämpfen wir morgen, übermorgen und zu aller Zeit!

Covid-19 | Versuch einer politischen Einordnung

Wir haben uns in den letzten Tagen in Videokonferenzen und Chatgruppen über die aktuellen Entwicklungen ausgetauscht. Mit diesem Text wollen wir unsere Debattenergebnisse auch Euch zur Verfügung stellen. Wir haben versucht einige Hinweise auf weitere lesenswerte Artikel einzubauen. Über Kommentare, weitere Verweise und Ideen sind wir sehr dankbar.

Die strukturellen Ursachen

Es scheint, als sei das Coronavirus wie eine Sintflut über uns hereingebrochen. Jedoch ist die Entstehung und Verbreitung von Covid-19, SARS oder Ebola an spezifische Zusammenhänge und Bedingungen unserer kapitalistischen Gesellschaft geknüpft, auf die wir in der Folge eingehen werden. Epidemien haben sich in den vergangenen Jahrzehnten vermehrt gehäuft. Tim Benton, britischer Professor für Bevölkerungsökologie, macht eine Ursache dafür entscheidend verantwortlich: »Je mehr wir die Umwelt verändern, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir Ökosysteme stören und Krankheiten die Möglichkeit bieten, sich zu entwickeln«. Oder anders formuliert: Je weniger wir den Planeten vor der Zerstörung durch große Konzerne schützen, desto größer werden die Bedrohungen für unser Leben: Klimawandel, Naturkatastrophen, neue Krankheiten.

Expandierende Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion

Großindustrielle Farmen, die ungebremste Zerstörung tropischer Regenwälder, die Rodung riesiger Agrarflächen durch private Investoren und der Anbau monokultureller Futtermittel sind hängen miteinander zusammen und verändern unsere Ökosysteme gravierend. Die Enteignungspraxis im neoliberalen Kapitalismus ruft fatale Folgen für Böden, Flora und Fauna hervor. Durch die Zerstörung von Lebensräumen und intakten Ökosystemen wird ein Verlust der Artenvielfalt erzeugt sowie die Veränderung der Zusammensetzung der Säugetierpopulation. Weniger Artenvielfalt bedeutet mehr Tiere einer Art. Wenn mehr Tiere einer Art im selben Lebensraum vorkommen, können sich Infektionskrankheiten zwischen den Tieren einer Art besser verbreiten, so Kathrin Hartmann im Freitag. Des Weiteren verringert sich dadurch die räumliche Distanz von Mensch und Wildtier stetig. Die dadurch entstehende Schnittstelle begünstige sogenannte “Zoonosen”, also die Übertragung von Infektionskrankheiten vom Tier auf den Menschen. SARS, Ebola und auch Covid-19 sind dabei nur die prominentesten dieser zoonotischen Infektionskrankheiten mit globalen Auswirkungen.Auch nach einer erfolgreichen Übertragung bietet die gegenwärtige industrielle Landwirtschaft optimale Voraussetzungen für die Verbreitung von Viren. Der Evolutionsbiologe Rob Wallace beschreibt in seinem 2016 erschienen Buch “Big Farms Make Big Flu” die Zusammenhänge von Produktionsmethoden der industriellen Landwirtschaft und die Ausbreitung dieser. In einem aktuellen Interview stellt er Bezüge zur Entstehung des Coronavirus her und benennt unter anderem die hohe Populationsdichte und die Züchtung genetischer Monokulturen, als Gründe für das vermehrte Auftreten tödlicher Infektionskrankheiten. Ein zweiter relevanter Faktor bei der Entstehung von Schnittstellen für zoonotische Übertragungen ist die zunehmende Vermarktung von Wildtieren, wie der Chefarzt der Wildlife Conservation Society, Christian Walzer im National Geographic anschaulich darlegt. Sie werden illegal gejagt, gefangen und für unterschiedlichste Zwecke auf dem Weltmarkt angeboten. Der hohe Konkurrenzdruck zwingt die Jäger hierbei immer tiefer in die Wälder vorzudringen. Je seltener und je mehr Aufwand hinter dem Fang steht, desto teurer kann die Ware Tier später verkauft werden.

Es wird daher deutlich: Die industrielle Landwirtschaft und Kommerzialisierung von Lebewesen zur Fleischproduktion im gegenwärtigen neoliberalen Kapitalismus begünstigt die Entstehung und Verbreitung von Viren wie COVID-19. Ohne einen Blick auf diese Verhältnisse ist die gegenwärtige Pandemie-Krise nicht zu verstehen.

»Austerity kills!«
Doch nicht nur die Entstehung der Pandemie ist eng mit der Art und Weise, wie unsere Wirtschaft organisiert ist, verbunden. Der scheinbar plötzliche Ausbruch trifft an den meisten Orten auf unvorbereitete Gesundheitssysteme. Das kommt nicht von ungefähr: In den letzten Jahrzehnten und insbesondere seit der großen Finanzkrise 2008, hat die EU ihre Mitgliedsstaaten dazu getrieben, im Gesundheitssektor massiv einzusparen. Auf Vorschlag der EZB senkte Italien in den letzten Jahren die Anzahl seiner Krankenhäuser um 15%, wie Alexis Passadakis im Freitag berichtet. Diese Austeritätspolitik der Troika, so seine treffende Zusammenfassung, ist tödlich. Auch in Deutschland leidet die Gesundheitsversorgung unter Profitdruck. »Der Niedergang der Krankenhauspflege verlief über zwei wichtige Stationen«, schreibt der Gewerkschafter Kalle Kunkel, ebenfalls im Freitag: »1997 wurde die letzte Form von Personalbemessung abgeschafft, weil sie – so die explizite Begründung im Gesetzesentwurf – der angestrebten marktförmigen Steuerung der Krankenhäuser im Weg stand. 2003/04 wurden dann die Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG, deutsch: diagnosebezogene Fallgruppen) eingeführt. Damit war die Pflege endgültig zu einem Kostenfaktor im Preissystem degradiert und der Abbau der Pflegestellen beschleunigte sich noch einmal. Auf seinem Höhepunkt fielen diesem Kahlschlag ca. 50.000 Pflegestellen zum Opfer, während die Patient*innenzahlen seit Einführung der DRGs immer weiter anstiegen. Entsprechend stieg die Anzahl der Patient*innen pro Pflegekraft.« Auf diese Zustände haben Pflegekräfte gemeinsam mit ver.di und auch der LINKEN seit Jahren aufmerksam gemacht. Dennoch forderte die Bertelsmann-Stiftung noch vergangenes Jahr, jedes zweite Krankenhaus in Deutschland zu schließen. In den kommenden Wochen und Monaten wird es darauf ankommen, dass wir die Pflegekräfte in ihrer Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen mit aller Kraft unterstützen, denn »es kann nicht sein, dass ein Krankenhaus Profite erwirtschaften muss und Fragen der Versorgung zu Gunsten von Gewinnen in den Hintergrund treten«, wie Ellen Ost, die am Uniklinikum in Jena arbeitet es in einem lesenswerten Interview mit der LuXemburg formuliert.

Die Profitorientierung im Gesundheitswesen hat noch in einer weiteren Hinsicht fatale Folgen für die aktuelle Krise. Große Pharmakonzerne haben kein Interesse an einer langfristigen Planung zur Vorbeugung von Pandemien, da dies keinen sicheren Profit bringt. In einem Artikel für das Jacobin-Magazin stellt der marxistische Geograph David Harvey fest: »Corporatist Big Pharma has little or no interest in non-remunerative research on infectious diseases (such as the whole class of coronaviruses that have been well-known since the 1960s). Big Pharma rarely invests in prevention. It has little interest in investing in preparedness for a public health crisis. It loves to design cures. The sicker we are, the more they earn.«Die Forschung an und Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten gehört in öffentliche Hand und damit unter demokratische Kontrolle. Das wird aktuell mehr als deutlich. Wie absurd der Status Quo ist, zeigt die zuletzt mit viel medialer Aufmerksamkeit bedachte Absage Dietmar Hopps, SAP-Chef und (zurecht) verhasster Hoffenheim-Mäzen, an Donald Trump, den USA einen potentiellen Impfstoff zu verkaufen. Weder Trump noch Hopp sollten in dieser Hinsicht etwas entscheiden dürfen. Stattdessen sollten die zahlreichen Firmen, die aktuell in Konkurrenz zueinander an einem Impfstoff forschen, ihre Ressourcen und Erkenntnisse bündeln.

Die Krise trifft nicht alle gleich

Das Coronavirus trifft hierzulande nicht alle Menschen gleich. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Corona jedoch auftrifft, umso mehr. Die Corona-Pandemie und die Krisenbewältigung der Regierung wirken geschlechtsspezifisch, treffen Migrant*innen besonders hart und lassen die Klassenverhältnisse verstärkt zu Tage treten.Die Lebenslage entscheidetKrise bedeutet nicht gleich Krise. Sowohl die unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie als auch die Folgen der von der Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen treffen Menschen auf unterschiedliche Weise und legen dabei den Charakter unserer Klassengesellschaft offen.
Wegen der Ausbreitung des Virus werden zunehmend Unternehmen, Betriebe und Büros geschlossen. Home Office ist das Gebot der Stunde. Doch was geschieht mit den Arbeitnehmer*innen, für die Arbeit von Zuhause aus keine Option ist? Laut Prognosen werden ca. 2,35 Millionen Menschen zukünftig auf das sogenannte Kurzarbeiter*innengeld (KuG) angewiesen sein. Die bislang höchste Zahl an Betroffenen stammt aus dem Jahr 2009, als durch die Wirtschaftskrise, 1,4 Millionen Menschen das KuG in Anspruch nahmen. Derzeit plant die Bundesregierung ein KuG von gerade einmal 60% des monatlichen Nettogehalts für kinderlose Beschäftigte und 67% für Beschäftigte mit Kindern. Das ist viel zu wenig und bedeutet insbesondere für Geringverdienende die Existenzbedrohung. Aktuell fordert ver.di eine Aufstockung des KuG auf mindestens 90%. Die LINKE-Abgeordnete Susanne Ferschl erklärte in einem Interview mit der Jungen Welt, warum nur so eine Existenzsicherung für die Beschäftigten möglich ist. Doch bisher hat die Bundesregierung wenig Einsehen für die Situation der Arbeitnehmer*innen gezeigt. Stattdessen werden mehr und mehr Gelder auf die Rettung von Unternehmen konzentriert.Des Weiteren können wir beobachten, dass durch die aktuelle Lage zunehmend Infrastrukturen wegfallen, die versuchen dort auszuhelfen, wo der Staat bereits vor der Krise versagt hat. In den letzten Wochen mussten 400 der insgesamt 948 Tafeln im Bundesgebiet geschlossen werden, wie der Dachverband erklärt. Jedoch sind rund 1,65 Mio. Menschen in Deutschland auf sie angewiesen. Und diese Zahl wird weiter steigen. Die Tafel prognostiziert dies nicht nur aufgrund ausbleibender Lohnfortzahlungen, sondern auch weil mit der Schließung von Schulen und KiTas günstige Mittagessen entfallen. Während Eltern aus einkommensschwachen Verhältnissen sich nun gezwungen sehen, die Versorgung ihrer Kinder über gemeinnützige Strukturen zu sichern, können reiche Haushalte sich bequem überteuerte Lebensmittel per Lieferdienst in ihr Eigenheim bringen lassen.Doch die Klassenverhältnisse drücken sich nicht nur im Zugang zu Lebensmitteln aus. Auch die Versorgung bei etwaiger Betroffenheit durch das Virus bemisst sich am eigenen Geldbeutel. Privatpatient*innen können sich durch teure Zusatzversicherungen eine bevorzugte Behandlung leisten oder sogar Vorsorgemaßnahmen ergreifen und sich eigenes medizinisches Equipment kaufen. Auch das Vitamin B in Krankenhäusern und Praxen wird in diesen Tagen zur begehrten Ware. In Ländern wie den USA nehmen diese Entwicklungen noch groteskere Züge an. Zwar hat die USA im internationalen Vergleich mit einer Anzahl von 25,4 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner*innen eine verhältnismäßig große Abdeckung, doch wer in diesen Betten liegen darf oder sich überhaupt auf Corona testen lassen kann, bleibt eine Frage der individuell abgeschlossenen Krankenversicherung.

»Who run the World?«

Mit der Corona-Krise offenbaren sich derzeit die tragenden Säulen unser Gesellschaft. Es wird deutlich, wie unerlässlich die Arbeit von vielen sozialen Berufsgruppen und Berufen aus dem Dienstleistungsbereich sind. Viele von diesen werden überdurchschnittlich oft von Frauen ausgeübt, sind schlecht entlohnt, finden in Teilzeit statt oder weisen schlechte arbeitsrechtliche Absicherungen auf. In den Krankenhäusern oder in der Altenpflege wird dieser Umstand eklatant sichtbar: Mit 80 Prozent sind es überwiegend Frauen, die in diesem Sektor beschäftigt sind. Überlastung und Personalmangel herrschen seit Jahren, auch ohne Corona-Krise. Weltweit stehen Krankenpfleger*innen in der ersten Reihe im Kampf gegen die Virus Erkrankung.Bundesweit hängen deshalb Banner in Städten von Ultras zahlreicher Fußballvereine. Darauf zu sehen sind Danksagungen für die Arbeit der Pfleger*innen. Viele Stimmen wurden in den vergangen Tagen laut, die eine Aufwertung sozialer Berufe fordern. Dies ist ein wichtiges Signal aus der Gesellschaft, muss nun jedoch auch mit der Forderung nach angemessenem Schutz von Pfleger*innen und Patient*innen in den Krankenhäusern verbunden werden, wie es beispielsweise die Beschäftigten bei Vivantes und der Charité in einem offenen Brief fordern. Auf was die Pfleger*innen aber auf lange Sicht angewiesen sein werden ist die solidarische Unterstützung in ihren Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und mehr Entlastung in den Krankenhäusern.Auch sind Frauen stärker von der Krise betroffen, weil die Schließung von Schulen und Kindertagesstätten zur Folge hat, dass v.a. Frauen jetzt unter erschwerten Bedingungen Kinderbetreuung, Berufstätigkeit und Haushaltsarbeit organisiert bekommen müssen. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass die Gewalt von Männern gegenüber Frauen in den eigenen vier Wänden zunehmen wird. In China hat sich während der Corona-Krise die Anzahl der Fälle häuslicher Gewalt nachweislich verdreifacht.

#Stayhome? Antirassistische Perspektiven
Der Hashtag #stayhome macht die Runde und das Einhalten von sozialer Distanz bleibt angebracht und richtig. Doch für viele Menschen ist aufgrund der EU-Grenzpolitik unmöglich »zuhause« zu bleiben oder sich auch nur von anderen Menschen zu distanzieren. Über 40.000 Menschen sitzen unter elendigen Bedingungen und ohne Zugang zur Hygieneversorgung in menschenverachtenden Lagern auf den griechischen Inseln fest, während hunderttausende deutsche Tourist*innen in der größten Rückholaktion der Geschichte nach Deutschland geflogen werden. Während sich in Deutschland Menschen nur noch zu zweit draußen treffen dürfen, wohnen Geflüchtete in Moria dicht gedrängt zu Vielen unter Planen und in Zelten. Um auf Toilette zu gehen, müssen sie sich in endlosen Schlangen anstellen, Seife steht nicht zur Verfügung. Mittlerweile wird die Wasserversorgung in den Camps rationiert, die Lebensmittelversorgung wird auf 1.000 Kalorien pro Campbewohner*in beschränkt. Diese Menschen haben keinerlei Chance sich vor dem Virus zu schützen. Ärzte ohne Grenzen warnen in einem Bericht der Zeit deshalb vor der Schutzlosigkeit, mit der die Menschen in den Camps der Epidemie ausgeliefert sind und fordern die Evakuierung der Lager, damit sich diese wie alle anderen vor dem Virus schützen können.Die Situation von Geflüchteten in Deutschland offenbart ebenso, wie das Erkrankungsrisiko und die staatlichen Schutzmaßnahmen eng an Herkunft und Pass gebunden sind. In Massenunterkünften, wie Erstaufnahmelagern und Abschiebezentren, fehlt es nicht nur an Informationen, sondern auch an geeigneten sanitären Bedingungen und Schutzausrüstung. Ganze Lager mit über 500 Bewohner*innen werden unter Quarantäne gestellt. Women in Excile hat bereits am 16. März auf die schlechte Informationslage, den miserablen Zugang zur medizinischen Versorgung und die Gefahr vor steigenden rassistischen Attacken auf Geflüchtete hingewiesen. Mit Falschinformationen seitens der Polizei über angeblich islamistische Fahnen beim Einsatz im Thüringer Asylheim in Suhl wird rechtsradikales Gedankengut befeuert, menschliche Abwertung legitimiert. Die Falschmeldungen wurden zur rechten Kampagne und Geflüchtete erhielten massenhafte Drohungen im Netz. Trotz der Forderung von Pro Asyl, Flüchtlingsräten und der sächsischen Linksfraktion den Vollzug der Abschiebehaft und Abschiebungen auszusetzen, halten Länder an der Abschiebepraxis fest.Zur selben Zeit schlägt die Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner vor, Asylbewerber*innen mit temporärer Aufhebung des Arbeitsverbots zur Spargelernte einzusetzen. Dieser zynische Vorschlag zeigt einmal mehr, zu was Migrant*innen und Geflüchtete degradiert werden: Fremdkörper, die höchstens als günstige und besonders ausbeutbare Arbeitskraft dienen sollen.

Weltwirtschaftskrise und der drohende Kollaps

Im Zuge der Corona-Krise sagen Ökonom*innen eine Weltwirtschaftskrise voraus, die die Krise von 2008 übertreffen soll und unser zukünftiges Leben auf der Welt gravierend verändern könnte. Hinweise darauf liefern das Erdbeben an den Börsen, die Prognose der Internationalen Arbeitsorganisation von millionenfacher Arbeitslosigkeit oder die sich anbahnende globale Rezession von historischem Ausmaß, die all jene Krisen übersteigen soll, die bisher aus Wirtschaftskrisen oder Naturkatastrophen der vergangenen Jahrzehnte bekannt sind. Linke Ökonom*innen weisen darauf hin, dass bereits seit der post-Krisenphase 2009 die Weltwirtschaft von niedrigen Wachstumsraten und bereits eintretenden Rezessionen geprägt war. Die globale Weltwirtschaft begriff sich auch ohne Corona im Niedergang. Dem marxistischen Ökonomen Michael Roberts zufolge sei die Corona Epidemie daher keine externe Krisenursache, sondern »the trigger to speed that up—and deepen it«. Vor diesem Hintergrund müssen wir die derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklungen betrachten und zukünftige politische Entscheidungen bewerten.

Die Antwort der Regierung

Seit Bekanntwerden der Schwere der Krise hat die deutsche Regierung verschiedene Maßnahmen ergriffen. Teilweise deutlich zu spät oder ohne erkennbare Gründe, was wiederum ihre Wirksamkeit in Frage stellt. So wurden am 16. März die Grenzen zu Deutschlands Nachbarstaaten geschlossen. Jedoch waren zu diesem Zeitpunkt bereits etliche Corona-Fälle im Land bekannt, trotzdem wurde der Pendler*innen- und Warenverkehr noch immer fortgesetzt. Welche Form der Grenzschließung soll das also sein? Es scheint, dass Politiker*innen durch nationalistische Abschottung ein Gefühl von Sicherheit vermitteln wollen. Doch ein Virus macht nicht vor Ländergrenzen halt. Exklusiven Schutz für die eigene Nation gibt es nicht. Stattdessen demonstriert ein Donald Trump, welcher versucht Impfschutz ausschließlich für die USA zu erwerben, wohin Anwandlungen wie “America first” führen können. Zudem geben Politiker*innen wie Horst Seehofer offen zu, dass die Krisenlage in Deutschland für sie Anlass genug sind, sich auch über Recht und Gesetz hinwegzusetzen. Selbstverständlich immer zum Wohle der Nation.

Seit dem 23. März gilt ein umfassendes Kontaktverbot in Deutschland, wonach der Aufenthalt im Freien mit nur einer nicht im eigenen Haushalt lebenden Person und unter Einhaltung eines Mindestabstands von 1,5m gestattet ist. Diverse Geschäfte und öffentliche Orte wurden geschlossen, um die Menschen dazu anzuhalten, daheim zu bleiben. Wenn man bedenkt, dass in vielen Fertigungshallen, Betrieben sowie Callcentern die Arbeit fortgesetzt wird und dies unter geringen bis teilweise überhaupt nicht vorhandenen Schutzmaßnahmen, wird das strenge Kontaktverbot zur Farce. Es zeigt letztlich, dass die Prioritäten des Staates eher beim Proft als beim Wohl der Menschen liegen. Richtig wäre es nun auch alle Betriebe zu schließen, die nicht zwingend notwendig für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur sind – bei Lohnfortzahlung und staatlicher Unterstützung der Beschäftigten. Personen in prekären ökonomischen Situationen sind zudem deutlich stärker von den psychologischen und mentalen Folgen des Social Distancing bzw. der Isolation betroffen. Als alleinerziehende Mutter mit Kindern in einer 2-Raum-Wohnung gestalten sich die Quarantänemaßnahmen deutlich belastender als in einem Haus am Stadtrand und mit Garten. Die massiven Einschränkungen unserer Freiheitsrechte müssen vollständig zurückgenommen werden, sobald sich die Lage beruhigt. Es gilt zu verhindern, dass die Corona-Krise als Vorwand genutzt wird um den Staat dauerhaft mit derart autoritären Befugnissen auszustatten.

Die Verantwortung für die Gesundheit wird individualisiert und Spaziergänger*innen im Park werden zur Ursache des Zusammenbruchs unseres Gesundheitssystems erklärt. Die eigentliche Verantwortung der Politik wird gekonnt verschleiert, stattdessen an die individuelle Verantwortung aller appelliert. Ohne entsprechende wirtschaftliche Regelungen werden weiterhin viele Menschen jeden Tag gezwungen, zur Arbeit zu gehen und sich somit der Ansteckungsgefahr auszusetzen. Nicht jede und jeder Einzelne ist dafür verantwortlich, sondern die Politik der Bundesregierung. Die Kolleginnen und Kollegen im Krankenhaus, im Einzelhandel und allen »systemrelevanten« Berufen tragen die größte Last der gegenwärtigen Krise. Uns alle treffen die Einschränkungen (wenn auch in unterschiedlichem Maße), wir alle teilen die Sorgen. Doch verantwortlich sind diejenigen, die Krankenhäuser geschlossen haben, Gesundheit zur Ware gemacht haben und daran nichts ändern.

Neue Bedingungen, gleiche Aufgaben: Solidarische Perspektiven von Links

Nach der Corona-Krise wird vieles anders sein. Wie die Gesellschaft nach der Pandemie aussieht, ob sie in neue Kapitel aufbricht oder die Katastrophen der Gegenwart nur verstärkt – das hängt auch an uns – der gesellschaftlichen Linken, der Jugend, denen die mitreden wollen. Wir sind gut beraten schnell zu lernen wie unter den veränderten Bedingungen wirksam Politik gemacht wird. Deshalb ist es sehr wichtig, die eigenen Treffen und den Austausch untereinander weiterhin aufrechtzuerhalten. Möglichkeiten zur digitalen Vernetzung gibt es genug. Doch nicht der (hoffentlich) kurzweilige Umstieg auf digitale Kommunikation ist die entscheidende Neuerung dieser Tage. Es ist die kollektive Krisenerfahrung, das Systemversagen, das ein neues Fenster für sozialistische Politik eröffnet. Klingt nach Hoffnung, ist es auch. Dies sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich dieses neue Fenster im Kontext einer Weltwirtschaftskrise öffnet, die zumindest wir – junge Menschen, die gerade an der Universität studieren – so noch nie erlebt haben. Die Bedingungen unserer Politik wandeln sich gerade in gefühlter Lichtgeschwindigkeit und wir alle sind herausgefordert sie zu analysieren, zu versuchen, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, die passenden politischen Antworten zu formulieren und zu organisieren. Die entscheidende Aufgabe bleibt aber letztlich dieselbe: Den Bruch mit einer Weltwirtschaftsordnung organisieren, die nicht die unsere ist und zunehmend unsere Lebensgrundlage zerstört.

Mit dem Hashtag #stayhome appellieren Menschen weltweit an ihre Mitmenschen, zuhause zu bleiben. In Italien sind bei einem Spendenaufruf innerhalb von wenigen Stunden Millionensummen zusammengekommen. Es entstehen solidarische Nachbar*innenschaftshilfen für Menschen aus Risikogruppen und sogenannte Gabenzäune, an denen Essen, Kleidung und Hygieneartikel für wohnungslose Menschen aufgehängt werden. Wir sehen eine Welle der Solidarisierung und Wertschätzung von Krankenhauspersonal und anderen Menschen, die in systemrelevanten Berufen arbeiten. Das ist eine Chance, um Solidarität, gegenseitige Anteilnahme und kollektives Handeln wieder stärker in den Köpfen der Menschen und der Gesellschaft zu verankern.Auf diese Solidarität können wir uns beziehen, wenn es darum geht zu fordern, dass es nicht wir sind, die die Krise bezahlen müssen. Auch auf die Wertschätzung, die dem Krankenhauspersonal gerade entgegengebracht wird, können wir aufbauen, um für bessere Bedingungen im Pflegebereich zu kämpfen. Und auch ein kollektives Gefühl gemeinsam gehandelt zu haben, kann eine Chance für gemeinsame Bewegungen sein. Dabei ist es aber auch unsere Aufgabe diese Kollektivität zu politisieren. Klar zu machen, dass Solidarität alle Menschen einschließen muss und nicht an den Grenzen Europas oder vor dem nächsten Abschiebelager halt machen darf. Die Nachbarinnen*schaftssolidarität kann und muss zu internationaler Solidarität wachsen und verstehen, wer ihr gegenüber steht: Die Bundesregierung und Profitinteressen.

Für die kommenden Wochen halten wir daher zwei Dinge für besonders wichtig:
1. Kühlen Kopf bewahren: Der Staat ist immer noch der Staat. In unserer Wut wie auch in unserer Angst um Großeltern, Freund*innen, Bekannte dürfen wir nicht vergessen, was wir gelernt haben. Der Staat im Kapitalismus – insbesondere im Neoliberalismus – ist immer noch Teil eines Herrschaftsverhältnisses. Er ist nicht der Staat der Vielen, derjenigen, die die Gesellschaft am Laufen halten. Er ist in letzter Instanz der Staat der Wenigen, derjenigen, die uns in diese Misere gebracht haben. In marxistischer Theorie sprechen wir deshalb vom »ideellen Gesamtkapitalist«. Jetzt heißt es kühlen Kopf bewahren und alle Maßnahmen – seien es Sperren, Verbote oder was auch immer – mit dem Wissen beurteilen, wessen Interessen auch der bundesdeutsche Staat in den Jahrzehnten seiner Existenz am Ende des Tages geschützt und zum Allgemeininteresse erklärt hat. Wenn Mannschaftswagen in unseren Parks uns also vor der Pandemie schützen sollen, indem sie das Sitzen auf einer Parkbank sanktionieren; die Kolleginnen und Kollegen bei amazon und in vielen weiteren Betrieben mit mangelndem Schutz aber weiterarbeiten – wundert euch nicht. Wenn Prinz Charles innerhalb eines Tages getestet wird, andere gar nicht – wundert euch nicht. Wenn Merkel sagt »jede und jeder Einzelne« ist gefragt, von »Wir« spricht, dann aber beim Kurzarbeiter*innengeld den Gewerkschaften die kalte Schulter zeigt und sowieso immer zu vergessen scheint, dass sie den Zustand des Gesundheitssystems als Regierungschefin ja verantwortet – dann wundert Euch nicht.

2. Keine Angst vor großen Fragen, aber auch Präzision bei den Kleinen. Ein Fenster für sozialistische Politik öffnet sich, radikale Antworten werden einen Aufschwung erleben. Das bedeutet für uns deutliche Ansagen zu machen: Ja, das ist Systemversagen. Ja, das muss grundsätzlich, radikal – also von der Wurzel her – anders gemacht werden. Doch das bedeutet auch, nicht nur dieselben Sachen jetzt lauter zu wiederholen, die wir in unsere kleinen Papierchen, Posts und Tweets hauen, wenn das Fenster zur anderen Welt geschlossen zu sein scheint. Wir stehen so vor der doppelten Herausforderung, dem Gefühl der Wut über die gegenwärtigen Verhältnisse einen radikalen Ausdruck zu verleihen und gleichzeitig nächste konkrete und realistische Schritte anzubieten. Lernen, Kämpfe aufzubauen und zu führen, lernen sie zu gewinnen. Darum wird es jetzt noch mehr gehen als zuvor. Für uns heißt das: Gegenseitig bilden in Theorie & Praxis sozialistischer Politik, mit Vorträgen unseres Bundesverbandes Die Linke.SDS und den Organizing-Lectures der Rosa-Luxemburg-Stiftung und mit allem, was wir noch auf die Beine stellen. So machen wir uns bereit für die kommenden Kämpfe und Bewegungen. So machen wir uns bereit dafür zu sorgen, dass die Reichen die gegenwärtige wie die zukünftige Krise zahlen werden.