Covid-19 | Versuch einer politischen Einordnung

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Wir haben uns in den letzten Tagen in Videokonferenzen und Chatgruppen über die aktuellen Entwicklungen ausgetauscht. Mit diesem Text wollen wir unsere Debattenergebnisse auch Euch zur Verfügung stellen. Wir haben versucht einige Hinweise auf weitere lesenswerte Artikel einzubauen. Über Kommentare, weitere Verweise und Ideen sind wir sehr dankbar.

Die strukturellen Ursachen

Es scheint, als sei das Coronavirus wie eine Sintflut über uns hereingebrochen. Jedoch ist die Entstehung und Verbreitung von Covid-19, SARS oder Ebola an spezifische Zusammenhänge und Bedingungen unserer kapitalistischen Gesellschaft geknüpft, auf die wir in der Folge eingehen werden. Epidemien haben sich in den vergangenen Jahrzehnten vermehrt gehäuft. Tim Benton, britischer Professor für Bevölkerungsökologie, macht eine Ursache dafür entscheidend verantwortlich: »Je mehr wir die Umwelt verändern, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir Ökosysteme stören und Krankheiten die Möglichkeit bieten, sich zu entwickeln«. Oder anders formuliert: Je weniger wir den Planeten vor der Zerstörung durch große Konzerne schützen, desto größer werden die Bedrohungen für unser Leben: Klimawandel, Naturkatastrophen, neue Krankheiten.

Expandierende Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion

Großindustrielle Farmen, die ungebremste Zerstörung tropischer Regenwälder, die Rodung riesiger Agrarflächen durch private Investoren und der Anbau monokultureller Futtermittel sind hängen miteinander zusammen und verändern unsere Ökosysteme gravierend. Die Enteignungspraxis im neoliberalen Kapitalismus ruft fatale Folgen für Böden, Flora und Fauna hervor. Durch die Zerstörung von Lebensräumen und intakten Ökosystemen wird ein Verlust der Artenvielfalt erzeugt sowie die Veränderung der Zusammensetzung der Säugetierpopulation. Weniger Artenvielfalt bedeutet mehr Tiere einer Art. Wenn mehr Tiere einer Art im selben Lebensraum vorkommen, können sich Infektionskrankheiten zwischen den Tieren einer Art besser verbreiten, so Kathrin Hartmann im Freitag. Des Weiteren verringert sich dadurch die räumliche Distanz von Mensch und Wildtier stetig. Die dadurch entstehende Schnittstelle begünstige sogenannte “Zoonosen”, also die Übertragung von Infektionskrankheiten vom Tier auf den Menschen. SARS, Ebola und auch Covid-19 sind dabei nur die prominentesten dieser zoonotischen Infektionskrankheiten mit globalen Auswirkungen.Auch nach einer erfolgreichen Übertragung bietet die gegenwärtige industrielle Landwirtschaft optimale Voraussetzungen für die Verbreitung von Viren. Der Evolutionsbiologe Rob Wallace beschreibt in seinem 2016 erschienen Buch “Big Farms Make Big Flu” die Zusammenhänge von Produktionsmethoden der industriellen Landwirtschaft und die Ausbreitung dieser. In einem aktuellen Interview stellt er Bezüge zur Entstehung des Coronavirus her und benennt unter anderem die hohe Populationsdichte und die Züchtung genetischer Monokulturen, als Gründe für das vermehrte Auftreten tödlicher Infektionskrankheiten. Ein zweiter relevanter Faktor bei der Entstehung von Schnittstellen für zoonotische Übertragungen ist die zunehmende Vermarktung von Wildtieren, wie der Chefarzt der Wildlife Conservation Society, Christian Walzer im National Geographic anschaulich darlegt. Sie werden illegal gejagt, gefangen und für unterschiedlichste Zwecke auf dem Weltmarkt angeboten. Der hohe Konkurrenzdruck zwingt die Jäger hierbei immer tiefer in die Wälder vorzudringen. Je seltener und je mehr Aufwand hinter dem Fang steht, desto teurer kann die Ware Tier später verkauft werden.

Es wird daher deutlich: Die industrielle Landwirtschaft und Kommerzialisierung von Lebewesen zur Fleischproduktion im gegenwärtigen neoliberalen Kapitalismus begünstigt die Entstehung und Verbreitung von Viren wie COVID-19. Ohne einen Blick auf diese Verhältnisse ist die gegenwärtige Pandemie-Krise nicht zu verstehen.

»Austerity kills!«
Doch nicht nur die Entstehung der Pandemie ist eng mit der Art und Weise, wie unsere Wirtschaft organisiert ist, verbunden. Der scheinbar plötzliche Ausbruch trifft an den meisten Orten auf unvorbereitete Gesundheitssysteme. Das kommt nicht von ungefähr: In den letzten Jahrzehnten und insbesondere seit der großen Finanzkrise 2008, hat die EU ihre Mitgliedsstaaten dazu getrieben, im Gesundheitssektor massiv einzusparen. Auf Vorschlag der EZB senkte Italien in den letzten Jahren die Anzahl seiner Krankenhäuser um 15%, wie Alexis Passadakis im Freitag berichtet. Diese Austeritätspolitik der Troika, so seine treffende Zusammenfassung, ist tödlich. Auch in Deutschland leidet die Gesundheitsversorgung unter Profitdruck. »Der Niedergang der Krankenhauspflege verlief über zwei wichtige Stationen«, schreibt der Gewerkschafter Kalle Kunkel, ebenfalls im Freitag: »1997 wurde die letzte Form von Personalbemessung abgeschafft, weil sie – so die explizite Begründung im Gesetzesentwurf – der angestrebten marktförmigen Steuerung der Krankenhäuser im Weg stand. 2003/04 wurden dann die Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG, deutsch: diagnosebezogene Fallgruppen) eingeführt. Damit war die Pflege endgültig zu einem Kostenfaktor im Preissystem degradiert und der Abbau der Pflegestellen beschleunigte sich noch einmal. Auf seinem Höhepunkt fielen diesem Kahlschlag ca. 50.000 Pflegestellen zum Opfer, während die Patient*innenzahlen seit Einführung der DRGs immer weiter anstiegen. Entsprechend stieg die Anzahl der Patient*innen pro Pflegekraft.« Auf diese Zustände haben Pflegekräfte gemeinsam mit ver.di und auch der LINKEN seit Jahren aufmerksam gemacht. Dennoch forderte die Bertelsmann-Stiftung noch vergangenes Jahr, jedes zweite Krankenhaus in Deutschland zu schließen. In den kommenden Wochen und Monaten wird es darauf ankommen, dass wir die Pflegekräfte in ihrer Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen mit aller Kraft unterstützen, denn »es kann nicht sein, dass ein Krankenhaus Profite erwirtschaften muss und Fragen der Versorgung zu Gunsten von Gewinnen in den Hintergrund treten«, wie Ellen Ost, die am Uniklinikum in Jena arbeitet es in einem lesenswerten Interview mit der LuXemburg formuliert.

Die Profitorientierung im Gesundheitswesen hat noch in einer weiteren Hinsicht fatale Folgen für die aktuelle Krise. Große Pharmakonzerne haben kein Interesse an einer langfristigen Planung zur Vorbeugung von Pandemien, da dies keinen sicheren Profit bringt. In einem Artikel für das Jacobin-Magazin stellt der marxistische Geograph David Harvey fest: »Corporatist Big Pharma has little or no interest in non-remunerative research on infectious diseases (such as the whole class of coronaviruses that have been well-known since the 1960s). Big Pharma rarely invests in prevention. It has little interest in investing in preparedness for a public health crisis. It loves to design cures. The sicker we are, the more they earn.«Die Forschung an und Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten gehört in öffentliche Hand und damit unter demokratische Kontrolle. Das wird aktuell mehr als deutlich. Wie absurd der Status Quo ist, zeigt die zuletzt mit viel medialer Aufmerksamkeit bedachte Absage Dietmar Hopps, SAP-Chef und (zurecht) verhasster Hoffenheim-Mäzen, an Donald Trump, den USA einen potentiellen Impfstoff zu verkaufen. Weder Trump noch Hopp sollten in dieser Hinsicht etwas entscheiden dürfen. Stattdessen sollten die zahlreichen Firmen, die aktuell in Konkurrenz zueinander an einem Impfstoff forschen, ihre Ressourcen und Erkenntnisse bündeln.

Die Krise trifft nicht alle gleich

Das Coronavirus trifft hierzulande nicht alle Menschen gleich. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Corona jedoch auftrifft, umso mehr. Die Corona-Pandemie und die Krisenbewältigung der Regierung wirken geschlechtsspezifisch, treffen Migrant*innen besonders hart und lassen die Klassenverhältnisse verstärkt zu Tage treten.Die Lebenslage entscheidetKrise bedeutet nicht gleich Krise. Sowohl die unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie als auch die Folgen der von der Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen treffen Menschen auf unterschiedliche Weise und legen dabei den Charakter unserer Klassengesellschaft offen.
Wegen der Ausbreitung des Virus werden zunehmend Unternehmen, Betriebe und Büros geschlossen. Home Office ist das Gebot der Stunde. Doch was geschieht mit den Arbeitnehmer*innen, für die Arbeit von Zuhause aus keine Option ist? Laut Prognosen werden ca. 2,35 Millionen Menschen zukünftig auf das sogenannte Kurzarbeiter*innengeld (KuG) angewiesen sein. Die bislang höchste Zahl an Betroffenen stammt aus dem Jahr 2009, als durch die Wirtschaftskrise, 1,4 Millionen Menschen das KuG in Anspruch nahmen. Derzeit plant die Bundesregierung ein KuG von gerade einmal 60% des monatlichen Nettogehalts für kinderlose Beschäftigte und 67% für Beschäftigte mit Kindern. Das ist viel zu wenig und bedeutet insbesondere für Geringverdienende die Existenzbedrohung. Aktuell fordert ver.di eine Aufstockung des KuG auf mindestens 90%. Die LINKE-Abgeordnete Susanne Ferschl erklärte in einem Interview mit der Jungen Welt, warum nur so eine Existenzsicherung für die Beschäftigten möglich ist. Doch bisher hat die Bundesregierung wenig Einsehen für die Situation der Arbeitnehmer*innen gezeigt. Stattdessen werden mehr und mehr Gelder auf die Rettung von Unternehmen konzentriert.Des Weiteren können wir beobachten, dass durch die aktuelle Lage zunehmend Infrastrukturen wegfallen, die versuchen dort auszuhelfen, wo der Staat bereits vor der Krise versagt hat. In den letzten Wochen mussten 400 der insgesamt 948 Tafeln im Bundesgebiet geschlossen werden, wie der Dachverband erklärt. Jedoch sind rund 1,65 Mio. Menschen in Deutschland auf sie angewiesen. Und diese Zahl wird weiter steigen. Die Tafel prognostiziert dies nicht nur aufgrund ausbleibender Lohnfortzahlungen, sondern auch weil mit der Schließung von Schulen und KiTas günstige Mittagessen entfallen. Während Eltern aus einkommensschwachen Verhältnissen sich nun gezwungen sehen, die Versorgung ihrer Kinder über gemeinnützige Strukturen zu sichern, können reiche Haushalte sich bequem überteuerte Lebensmittel per Lieferdienst in ihr Eigenheim bringen lassen.Doch die Klassenverhältnisse drücken sich nicht nur im Zugang zu Lebensmitteln aus. Auch die Versorgung bei etwaiger Betroffenheit durch das Virus bemisst sich am eigenen Geldbeutel. Privatpatient*innen können sich durch teure Zusatzversicherungen eine bevorzugte Behandlung leisten oder sogar Vorsorgemaßnahmen ergreifen und sich eigenes medizinisches Equipment kaufen. Auch das Vitamin B in Krankenhäusern und Praxen wird in diesen Tagen zur begehrten Ware. In Ländern wie den USA nehmen diese Entwicklungen noch groteskere Züge an. Zwar hat die USA im internationalen Vergleich mit einer Anzahl von 25,4 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner*innen eine verhältnismäßig große Abdeckung, doch wer in diesen Betten liegen darf oder sich überhaupt auf Corona testen lassen kann, bleibt eine Frage der individuell abgeschlossenen Krankenversicherung.

»Who run the World?«

Mit der Corona-Krise offenbaren sich derzeit die tragenden Säulen unser Gesellschaft. Es wird deutlich, wie unerlässlich die Arbeit von vielen sozialen Berufsgruppen und Berufen aus dem Dienstleistungsbereich sind. Viele von diesen werden überdurchschnittlich oft von Frauen ausgeübt, sind schlecht entlohnt, finden in Teilzeit statt oder weisen schlechte arbeitsrechtliche Absicherungen auf. In den Krankenhäusern oder in der Altenpflege wird dieser Umstand eklatant sichtbar: Mit 80 Prozent sind es überwiegend Frauen, die in diesem Sektor beschäftigt sind. Überlastung und Personalmangel herrschen seit Jahren, auch ohne Corona-Krise. Weltweit stehen Krankenpfleger*innen in der ersten Reihe im Kampf gegen die Virus Erkrankung.Bundesweit hängen deshalb Banner in Städten von Ultras zahlreicher Fußballvereine. Darauf zu sehen sind Danksagungen für die Arbeit der Pfleger*innen. Viele Stimmen wurden in den vergangen Tagen laut, die eine Aufwertung sozialer Berufe fordern. Dies ist ein wichtiges Signal aus der Gesellschaft, muss nun jedoch auch mit der Forderung nach angemessenem Schutz von Pfleger*innen und Patient*innen in den Krankenhäusern verbunden werden, wie es beispielsweise die Beschäftigten bei Vivantes und der Charité in einem offenen Brief fordern. Auf was die Pfleger*innen aber auf lange Sicht angewiesen sein werden ist die solidarische Unterstützung in ihren Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und mehr Entlastung in den Krankenhäusern.Auch sind Frauen stärker von der Krise betroffen, weil die Schließung von Schulen und Kindertagesstätten zur Folge hat, dass v.a. Frauen jetzt unter erschwerten Bedingungen Kinderbetreuung, Berufstätigkeit und Haushaltsarbeit organisiert bekommen müssen. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass die Gewalt von Männern gegenüber Frauen in den eigenen vier Wänden zunehmen wird. In China hat sich während der Corona-Krise die Anzahl der Fälle häuslicher Gewalt nachweislich verdreifacht.

#Stayhome? Antirassistische Perspektiven
Der Hashtag #stayhome macht die Runde und das Einhalten von sozialer Distanz bleibt angebracht und richtig. Doch für viele Menschen ist aufgrund der EU-Grenzpolitik unmöglich »zuhause« zu bleiben oder sich auch nur von anderen Menschen zu distanzieren. Über 40.000 Menschen sitzen unter elendigen Bedingungen und ohne Zugang zur Hygieneversorgung in menschenverachtenden Lagern auf den griechischen Inseln fest, während hunderttausende deutsche Tourist*innen in der größten Rückholaktion der Geschichte nach Deutschland geflogen werden. Während sich in Deutschland Menschen nur noch zu zweit draußen treffen dürfen, wohnen Geflüchtete in Moria dicht gedrängt zu Vielen unter Planen und in Zelten. Um auf Toilette zu gehen, müssen sie sich in endlosen Schlangen anstellen, Seife steht nicht zur Verfügung. Mittlerweile wird die Wasserversorgung in den Camps rationiert, die Lebensmittelversorgung wird auf 1.000 Kalorien pro Campbewohner*in beschränkt. Diese Menschen haben keinerlei Chance sich vor dem Virus zu schützen. Ärzte ohne Grenzen warnen in einem Bericht der Zeit deshalb vor der Schutzlosigkeit, mit der die Menschen in den Camps der Epidemie ausgeliefert sind und fordern die Evakuierung der Lager, damit sich diese wie alle anderen vor dem Virus schützen können.Die Situation von Geflüchteten in Deutschland offenbart ebenso, wie das Erkrankungsrisiko und die staatlichen Schutzmaßnahmen eng an Herkunft und Pass gebunden sind. In Massenunterkünften, wie Erstaufnahmelagern und Abschiebezentren, fehlt es nicht nur an Informationen, sondern auch an geeigneten sanitären Bedingungen und Schutzausrüstung. Ganze Lager mit über 500 Bewohner*innen werden unter Quarantäne gestellt. Women in Excile hat bereits am 16. März auf die schlechte Informationslage, den miserablen Zugang zur medizinischen Versorgung und die Gefahr vor steigenden rassistischen Attacken auf Geflüchtete hingewiesen. Mit Falschinformationen seitens der Polizei über angeblich islamistische Fahnen beim Einsatz im Thüringer Asylheim in Suhl wird rechtsradikales Gedankengut befeuert, menschliche Abwertung legitimiert. Die Falschmeldungen wurden zur rechten Kampagne und Geflüchtete erhielten massenhafte Drohungen im Netz. Trotz der Forderung von Pro Asyl, Flüchtlingsräten und der sächsischen Linksfraktion den Vollzug der Abschiebehaft und Abschiebungen auszusetzen, halten Länder an der Abschiebepraxis fest.Zur selben Zeit schlägt die Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner vor, Asylbewerber*innen mit temporärer Aufhebung des Arbeitsverbots zur Spargelernte einzusetzen. Dieser zynische Vorschlag zeigt einmal mehr, zu was Migrant*innen und Geflüchtete degradiert werden: Fremdkörper, die höchstens als günstige und besonders ausbeutbare Arbeitskraft dienen sollen.

Weltwirtschaftskrise und der drohende Kollaps

Im Zuge der Corona-Krise sagen Ökonom*innen eine Weltwirtschaftskrise voraus, die die Krise von 2008 übertreffen soll und unser zukünftiges Leben auf der Welt gravierend verändern könnte. Hinweise darauf liefern das Erdbeben an den Börsen, die Prognose der Internationalen Arbeitsorganisation von millionenfacher Arbeitslosigkeit oder die sich anbahnende globale Rezession von historischem Ausmaß, die all jene Krisen übersteigen soll, die bisher aus Wirtschaftskrisen oder Naturkatastrophen der vergangenen Jahrzehnte bekannt sind. Linke Ökonom*innen weisen darauf hin, dass bereits seit der post-Krisenphase 2009 die Weltwirtschaft von niedrigen Wachstumsraten und bereits eintretenden Rezessionen geprägt war. Die globale Weltwirtschaft begriff sich auch ohne Corona im Niedergang. Dem marxistischen Ökonomen Michael Roberts zufolge sei die Corona Epidemie daher keine externe Krisenursache, sondern »the trigger to speed that up—and deepen it«. Vor diesem Hintergrund müssen wir die derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklungen betrachten und zukünftige politische Entscheidungen bewerten.

Die Antwort der Regierung

Seit Bekanntwerden der Schwere der Krise hat die deutsche Regierung verschiedene Maßnahmen ergriffen. Teilweise deutlich zu spät oder ohne erkennbare Gründe, was wiederum ihre Wirksamkeit in Frage stellt. So wurden am 16. März die Grenzen zu Deutschlands Nachbarstaaten geschlossen. Jedoch waren zu diesem Zeitpunkt bereits etliche Corona-Fälle im Land bekannt, trotzdem wurde der Pendler*innen- und Warenverkehr noch immer fortgesetzt. Welche Form der Grenzschließung soll das also sein? Es scheint, dass Politiker*innen durch nationalistische Abschottung ein Gefühl von Sicherheit vermitteln wollen. Doch ein Virus macht nicht vor Ländergrenzen halt. Exklusiven Schutz für die eigene Nation gibt es nicht. Stattdessen demonstriert ein Donald Trump, welcher versucht Impfschutz ausschließlich für die USA zu erwerben, wohin Anwandlungen wie “America first” führen können. Zudem geben Politiker*innen wie Horst Seehofer offen zu, dass die Krisenlage in Deutschland für sie Anlass genug sind, sich auch über Recht und Gesetz hinwegzusetzen. Selbstverständlich immer zum Wohle der Nation.

Seit dem 23. März gilt ein umfassendes Kontaktverbot in Deutschland, wonach der Aufenthalt im Freien mit nur einer nicht im eigenen Haushalt lebenden Person und unter Einhaltung eines Mindestabstands von 1,5m gestattet ist. Diverse Geschäfte und öffentliche Orte wurden geschlossen, um die Menschen dazu anzuhalten, daheim zu bleiben. Wenn man bedenkt, dass in vielen Fertigungshallen, Betrieben sowie Callcentern die Arbeit fortgesetzt wird und dies unter geringen bis teilweise überhaupt nicht vorhandenen Schutzmaßnahmen, wird das strenge Kontaktverbot zur Farce. Es zeigt letztlich, dass die Prioritäten des Staates eher beim Proft als beim Wohl der Menschen liegen. Richtig wäre es nun auch alle Betriebe zu schließen, die nicht zwingend notwendig für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur sind – bei Lohnfortzahlung und staatlicher Unterstützung der Beschäftigten. Personen in prekären ökonomischen Situationen sind zudem deutlich stärker von den psychologischen und mentalen Folgen des Social Distancing bzw. der Isolation betroffen. Als alleinerziehende Mutter mit Kindern in einer 2-Raum-Wohnung gestalten sich die Quarantänemaßnahmen deutlich belastender als in einem Haus am Stadtrand und mit Garten. Die massiven Einschränkungen unserer Freiheitsrechte müssen vollständig zurückgenommen werden, sobald sich die Lage beruhigt. Es gilt zu verhindern, dass die Corona-Krise als Vorwand genutzt wird um den Staat dauerhaft mit derart autoritären Befugnissen auszustatten.

Die Verantwortung für die Gesundheit wird individualisiert und Spaziergänger*innen im Park werden zur Ursache des Zusammenbruchs unseres Gesundheitssystems erklärt. Die eigentliche Verantwortung der Politik wird gekonnt verschleiert, stattdessen an die individuelle Verantwortung aller appelliert. Ohne entsprechende wirtschaftliche Regelungen werden weiterhin viele Menschen jeden Tag gezwungen, zur Arbeit zu gehen und sich somit der Ansteckungsgefahr auszusetzen. Nicht jede und jeder Einzelne ist dafür verantwortlich, sondern die Politik der Bundesregierung. Die Kolleginnen und Kollegen im Krankenhaus, im Einzelhandel und allen »systemrelevanten« Berufen tragen die größte Last der gegenwärtigen Krise. Uns alle treffen die Einschränkungen (wenn auch in unterschiedlichem Maße), wir alle teilen die Sorgen. Doch verantwortlich sind diejenigen, die Krankenhäuser geschlossen haben, Gesundheit zur Ware gemacht haben und daran nichts ändern.

Neue Bedingungen, gleiche Aufgaben: Solidarische Perspektiven von Links

Nach der Corona-Krise wird vieles anders sein. Wie die Gesellschaft nach der Pandemie aussieht, ob sie in neue Kapitel aufbricht oder die Katastrophen der Gegenwart nur verstärkt – das hängt auch an uns – der gesellschaftlichen Linken, der Jugend, denen die mitreden wollen. Wir sind gut beraten schnell zu lernen wie unter den veränderten Bedingungen wirksam Politik gemacht wird. Deshalb ist es sehr wichtig, die eigenen Treffen und den Austausch untereinander weiterhin aufrechtzuerhalten. Möglichkeiten zur digitalen Vernetzung gibt es genug. Doch nicht der (hoffentlich) kurzweilige Umstieg auf digitale Kommunikation ist die entscheidende Neuerung dieser Tage. Es ist die kollektive Krisenerfahrung, das Systemversagen, das ein neues Fenster für sozialistische Politik eröffnet. Klingt nach Hoffnung, ist es auch. Dies sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich dieses neue Fenster im Kontext einer Weltwirtschaftskrise öffnet, die zumindest wir – junge Menschen, die gerade an der Universität studieren – so noch nie erlebt haben. Die Bedingungen unserer Politik wandeln sich gerade in gefühlter Lichtgeschwindigkeit und wir alle sind herausgefordert sie zu analysieren, zu versuchen, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, die passenden politischen Antworten zu formulieren und zu organisieren. Die entscheidende Aufgabe bleibt aber letztlich dieselbe: Den Bruch mit einer Weltwirtschaftsordnung organisieren, die nicht die unsere ist und zunehmend unsere Lebensgrundlage zerstört.

Mit dem Hashtag #stayhome appellieren Menschen weltweit an ihre Mitmenschen, zuhause zu bleiben. In Italien sind bei einem Spendenaufruf innerhalb von wenigen Stunden Millionensummen zusammengekommen. Es entstehen solidarische Nachbar*innenschaftshilfen für Menschen aus Risikogruppen und sogenannte Gabenzäune, an denen Essen, Kleidung und Hygieneartikel für wohnungslose Menschen aufgehängt werden. Wir sehen eine Welle der Solidarisierung und Wertschätzung von Krankenhauspersonal und anderen Menschen, die in systemrelevanten Berufen arbeiten. Das ist eine Chance, um Solidarität, gegenseitige Anteilnahme und kollektives Handeln wieder stärker in den Köpfen der Menschen und der Gesellschaft zu verankern.Auf diese Solidarität können wir uns beziehen, wenn es darum geht zu fordern, dass es nicht wir sind, die die Krise bezahlen müssen. Auch auf die Wertschätzung, die dem Krankenhauspersonal gerade entgegengebracht wird, können wir aufbauen, um für bessere Bedingungen im Pflegebereich zu kämpfen. Und auch ein kollektives Gefühl gemeinsam gehandelt zu haben, kann eine Chance für gemeinsame Bewegungen sein. Dabei ist es aber auch unsere Aufgabe diese Kollektivität zu politisieren. Klar zu machen, dass Solidarität alle Menschen einschließen muss und nicht an den Grenzen Europas oder vor dem nächsten Abschiebelager halt machen darf. Die Nachbarinnen*schaftssolidarität kann und muss zu internationaler Solidarität wachsen und verstehen, wer ihr gegenüber steht: Die Bundesregierung und Profitinteressen.

Für die kommenden Wochen halten wir daher zwei Dinge für besonders wichtig:
1. Kühlen Kopf bewahren: Der Staat ist immer noch der Staat. In unserer Wut wie auch in unserer Angst um Großeltern, Freund*innen, Bekannte dürfen wir nicht vergessen, was wir gelernt haben. Der Staat im Kapitalismus – insbesondere im Neoliberalismus – ist immer noch Teil eines Herrschaftsverhältnisses. Er ist nicht der Staat der Vielen, derjenigen, die die Gesellschaft am Laufen halten. Er ist in letzter Instanz der Staat der Wenigen, derjenigen, die uns in diese Misere gebracht haben. In marxistischer Theorie sprechen wir deshalb vom »ideellen Gesamtkapitalist«. Jetzt heißt es kühlen Kopf bewahren und alle Maßnahmen – seien es Sperren, Verbote oder was auch immer – mit dem Wissen beurteilen, wessen Interessen auch der bundesdeutsche Staat in den Jahrzehnten seiner Existenz am Ende des Tages geschützt und zum Allgemeininteresse erklärt hat. Wenn Mannschaftswagen in unseren Parks uns also vor der Pandemie schützen sollen, indem sie das Sitzen auf einer Parkbank sanktionieren; die Kolleginnen und Kollegen bei amazon und in vielen weiteren Betrieben mit mangelndem Schutz aber weiterarbeiten – wundert euch nicht. Wenn Prinz Charles innerhalb eines Tages getestet wird, andere gar nicht – wundert euch nicht. Wenn Merkel sagt »jede und jeder Einzelne« ist gefragt, von »Wir« spricht, dann aber beim Kurzarbeiter*innengeld den Gewerkschaften die kalte Schulter zeigt und sowieso immer zu vergessen scheint, dass sie den Zustand des Gesundheitssystems als Regierungschefin ja verantwortet – dann wundert Euch nicht.

2. Keine Angst vor großen Fragen, aber auch Präzision bei den Kleinen. Ein Fenster für sozialistische Politik öffnet sich, radikale Antworten werden einen Aufschwung erleben. Das bedeutet für uns deutliche Ansagen zu machen: Ja, das ist Systemversagen. Ja, das muss grundsätzlich, radikal – also von der Wurzel her – anders gemacht werden. Doch das bedeutet auch, nicht nur dieselben Sachen jetzt lauter zu wiederholen, die wir in unsere kleinen Papierchen, Posts und Tweets hauen, wenn das Fenster zur anderen Welt geschlossen zu sein scheint. Wir stehen so vor der doppelten Herausforderung, dem Gefühl der Wut über die gegenwärtigen Verhältnisse einen radikalen Ausdruck zu verleihen und gleichzeitig nächste konkrete und realistische Schritte anzubieten. Lernen, Kämpfe aufzubauen und zu führen, lernen sie zu gewinnen. Darum wird es jetzt noch mehr gehen als zuvor. Für uns heißt das: Gegenseitig bilden in Theorie & Praxis sozialistischer Politik, mit Vorträgen unseres Bundesverbandes Die Linke.SDS und den Organizing-Lectures der Rosa-Luxemburg-Stiftung und mit allem, was wir noch auf die Beine stellen. So machen wir uns bereit für die kommenden Kämpfe und Bewegungen. So machen wir uns bereit dafür zu sorgen, dass die Reichen die gegenwärtige wie die zukünftige Krise zahlen werden.