Statement zu #Le1505

Plädoyer für eine gesellschaftliche Linke, die progressiven palästinensischen und israelischen Akteur:innen den Rücken stärkt 

Am 15.05. wurde in Leipzig zu zwei Kundgebungen auf dem Augustusplatz aufgerufen. Auf der einen Seite nahm die palästinensische Kundgebung die Geschehnisse in Sheikh Jarrah zum Anlass, um sich mit den betroffenen Palästinenser:innen zu solidarisieren. Diesen droht nach den Räumungen durch die israelische Polizei die Zwangsumsiedlung und Obdachlosigkeit. [1] Darüber hinaus wurde die Forderung nach der Beendigung des Krieges und der israelischen Besatzungspolitik laut. Zur gleichen Zeit fand auf der anderen Seite des Augustusplatzes die Kundgebung »Gegen jeden Antisemitismus und Solidarität mit Israel« statt, welche in Solidarität mit den Opfern der Raketenangriffe der Hamas organisiert und als Reaktion auf die Kundgebung zu #SaveSheikhJarrah am gleichen Ort angemeldet wurde.

Einzelpersonen unserer SDS Gruppe haben an der Kundgebung #SaveSheikhJarrah teilgenommen, um sich mit der palästinensischen Diaspora in Leipzig zu solidarisieren. Ein gruppeninterner Diskussionsprozess zur Situation in Nahost hat im Vorfeld nicht stattgefunden, weshalb wir auch zu keiner der beiden Kundgebungen mobilisiert haben. Ausgehend von den Erfahrungen unserer Genoss:innen von der Kundgebung wollen wir nun aber eine Debatte innerhalb der gesellschaftlichen Linken anregen, die die palästinensischen Proteste diskutiert und an den aufkommenden jüdisch-palästinensischen Bündnissen anknüpft.

1. Eindrücke von der Kundgebung

Es war eine kraftvolle und friedliche Versammlung. Anders als zum Teil berichtet wurde, gab es bis auf eine verbale Konfrontation zu Anfang keine ernsthaften Zwischenfälle. Augenscheinlich haben sich viele Palästinenser:innen und migrantische Familien an der Versammlung beteiligt. Auf zahlreichen Schildern war zu lesen: »Palästina für Muslime, Juden, Christen und alle… aber nicht für Besatzung, Siedlung und Unrecht.« oder »Dear Palestinians, Your voices will be heard.« In verschiedenen Sprechchören erklang »Free Palestine« und wütend wurde der Stopp der Bomben auf Gaza gefordert.

Teilnehmer:innen riefen auch: »Wir sind gegen Israel«
Noch häufiger aber wurde der Ruf laut: »Wir sind nicht gegen Juden!«. In einem Zwiegespräch sagte in diesem Sinne ein Palästinenser zu einem Israeli: »Wir haben nichts gegen Euch. Du bist Jude, ich bin Moslem – das ist scheiß egal. Es geht nicht um Religion, für uns ist das ein politischer Konflikt.« Diese Unterhaltung hat unseren Eindruck bekräftigt, dass die Kritik an Israel, wie auch seitens der Kundgebung betont, sich nicht gegen Jüdinnen:Juden, sondern gegen die israelische Besatzungspolitik richtet. 

Unserer Wahrnehmung nach ging es auf der Kundgebung somit in allererster Linie um Frieden und um ein Ende der Besatzungspolitik. Von den Rufen »Kindermörder Israel« grenzen wir uns jedoch ausdrücklich ab. Diese wurden von den Organisator:innen ebenso abgelehnt und versucht zu unterbinden. Von vielen Menschen in Deutschland wird die Parole als eine Anlehnung an Ritualmordlegenden des feudalistischen Europas über einen vermeintlich jüdischen Blutdurst verstanden, weswegen sie den Zielen des Protests nicht dienlich ist. Uns erscheint ein differenzierter Blick darauf angebracht und wir schließen uns dem israelischen Autor Yossi Bartal an, wenn er sagt, dass hierfür Aufklärung notwendig ist: »Ja, ich finde, sie sollten es wissen. Sie sind in Deutschland, sie rufen auf deutsch, sie sollten wissen, in welchem Umfeld sie sich bewegen, und hier brauchen wir Bildungsarbeit. Aber sie wissen es nicht, und daher ist ihre Motivation nicht unbedingt antisemitisch.« [2]

Auf der Kundgebung gab es zudem Rufe von einzelnen Teilnehmer:innen wie »Palästina ist arabisch-muslimisch und christlich« und »Mit Blut und Geist erlösen wir dich, Al-Aqsa« die auf arabisch ausgingen. Diese Ausfälle wurden im Nachgang an uns herangetragen und wir verurteilen sie aufs Schärfste. Die explizit antisemitischen Ausrufe müssen unbedingt zu einem direkten Ausschluss von der Kundgebung führen. Die Pöbeleien eines kleinen Teils der Teilnehmer:innen, die sich an die gegenüberliegende Kundgebung richteten wurden von den Ordner:innen direkt in die Schranken gewiesen. In unserer Wahrnehmung waren es v.a. Jugendliche, die sich von der Kundgebung auf der anderen Seite des Augustusplatzes provoziert gefühlt haben.

Es wäre aber gänzlich falsch, die friedliche Kundgebung #SaveSheikhJarrah für diese antisemitischen Ausfälle von Kleingruppen in Kollektivhaft zu nehmen, wie bspw. in der LVZ geschehen.[3]
Für uns ist zweierlei von elementarer Bedeutung. Erstens: Die antisemitischen Rufe kamen von einer geringen Anzahl der Teilnehmer:innen, die Mehrheit positionierte sich mit »Wir sind nicht gegen Juden« wieder und wieder entgegengesetzt und versuchte diese Teile mit anderen Sprechchören zu übertönen. Zweitens: Die Unruhe in Richtung der gegenüberliegenden Kundgebung kam für uns, um ehrlich zu sein, nicht überraschend und erscheint uns auch nicht abwegig. Die israelsolidarische Kundgebung wurde zur gleichen Zeit, am gleichen Ort nachzüglich angemeldet. So konnte diese Kundgebung für viele Palästinenser:innen nur als Gegenkundgebung verstanden werden. Wenn nun von einer angespannten Stimmung die Rede ist, gehört zur Einordnung auch zu sagen, dass Teilnehmer:innen der palästinensischen Kundgebung durch die Gegenkundgebung mit dem Generalverdacht des Antisemitismus konfrontiert waren, der ihnen durch große Banner unmittelbar vermittelt wurde. Der pauschalisierende Antisemitismus-Vorwurf gegenüber der gesamten Kundgebung sollte spätestens in dem Moment in Frage gestellt werden, wo auf der palästinensischen Kundgebung Israelis sprachen und musizierten, dafür Applaus erhielten und Israelis und Palästinenser:innen Seite an Seite für gerechten Frieden in Nahost zusammen standen.

2. Die bundesweiten pro-palästinensischen Demonstrationen

Neben unserer Überzeugung, dass Menschen ein Recht darauf haben, gegen lebensunwürdige Bedingungen in Israel, Gaza und der Westbank zu protestieren und unserem Unverständnis darüber, dass diese Anliegen hierzulande kaum Beachtung finden, halten wir es für besonders wichtig, auch bei diesen Veranstaltungen als Linke sichtbar präsent zu sein. Wenn es der hiesigen Linken nicht gelingt, Bezüge zu palästinensischen Communities aufzubauen, die auf Missstände in Israel und Palästina aufmerksam machen, sollten wir uns über die Vereinnahmung von rechtsextremen Kräften wie den »Grauen Wölfen« nicht wundern. Wir haben die palästinensischen Demonstrationen bundesweit verfolgt und waren angewidert von der antisemitischen Gestalt der Proteste in Gelsenkirchen. Die antisemitischen Angriffe auf Synagogen wie in Bonn sind schändlich. Ein Protest gegen israelische Politik darf sich niemals gegen jüdisches Leben richten, schon gar nicht in Deutschland. Diese Klarstellung unsererseits stellt kein Lippenbekenntnis dar: Genau so, wie wir unter Einsatz unserer körperlichen Integrität Nazis blockieren und versuchen von der Abschiebung bedrohte Geflüchtete zu verteidigen, werden wir dies wenn notwendig ohne Zweifel auch zum Schutz von Synagogen und jüdischem Leben tun.

In Leipzig war von einer rechtsextremen Vereinnahmung aber nichts zu erkennen. Mehr noch standen wir auf dieser Kundgebung gemeinsam mit Menschen, die ausdrücklich antifaschistisch Stellung bezogen haben. Ordner:innen verteilten Zettel, worauf klar abzulesen war, dass weder Rassismus noch Antisemitismus auf der Kundgebung etwas zu suchen haben. Von der Bühne aus wurde »Bella Ciao« und »Hoch die Internationale Solidarität« angestimmt und lautstark gesungen.

Aus den Negativbeispielen wie in Gelsenkirchen und Bonn, aber auch aus unseren positiven Eindrücken in Leipzig folgern wir, dass die gesellschaftliche Linke im Umgang mit der Nahost-Frage und im Sinne einer friedlichen Ko-Existenz nur vorankommen kann, wenn eine Hinwendung zu palästinensischen und israelischen Communities erfolgt. Darin sehen wir die Chance, die Erfahrungen von Unterdrückung und Diskriminierung von Jüdinnen:Juden und Palästinenser:innen rassismus-, antisemitismus-, aber auch herrschaftskritisch zu politisieren. Wir begreifen solche Proteste wie am 15.05. in Leipzig als Bewegungen, in denen es auch darum gehen muss, um politische Kräfteverhältnisse und Deutungen zu ringen. Das sollte insbesondere dann unsere Aufgabe sein, wenn diese Proteste drohen von rechts eingenommen zu werden. 

Die öffentliche Debatte über die Demonstrationen wird durch die Bundesregierung und rechte Politiker:innen, Springer und Co. gezielt rassistisch aufgeladen. So kann man in der »BILD-Zeitung« lesen, dass der Antisemitismus ein »importiertes Problem« sei. Springer bläst damit in das Horn deutscher Antisemit:innen wie der AfD, was angesichts dieser und verschwörungstheoretischen Querdenker:innen oder Aufstiegs-Randalen von Dynamo Hooligans ein schlechter Witz ist.

In Hinblick auf die palästinensischen Opfer in Gaza wird von linken Akteur:innen nicht selten als einziger Bezugspunkt die Hamas genannt. Diese ist natürlich antisemitisch und auch für Missstände in Gaza verantwortlich zu machen. Lediglich aber #FreeGazaFromHamas als Reaktion auf die über hundert Toten und mittlerweile 17.000 obdachlosen Palästinenser:innen durch die israelischen Militärschläge [4] anzuführen, hilft niemandem in Gaza weiter und ist zudem politisch unterkomplex. Die Hamas als alleinige Ursache für die soziale Misslage in Gaza zu bestimmen übergeht dabei v.a. drei Tatsachen: Erstens das Machtverhältnis in Nahost; zweitens die strategische Bedeutung der Hamas für die aktuelle rechte Regierung Israels – so ließ Netanjahu auf einer Parteiversammlung der Likud-Partei im März 2019 durchblicken: »Wer die Gründung eines palästinensischen Staates verhindern will, muss die Stärkung der Hamas unterstützen. Das ist Teil unserer Strategie – eine klare Trennung zwischen den Palästinensern in Gaza und denen im Westjordanland zu schaffen.« [5] und drittens wird der Blick darauf verstellt, dass der palästinensische Widerstand gegen die Besatzung älter ist als die aktuelle israelische Rechtsregierung und älter als die Hamas. 

3. Fazit

Mit Sorge blicken wir auf die politische Entwicklung in Israel, wo unter Führung Netanjahus die Regierungspolitik der Likud-Partei in den letzten Jahren eine Rechtsverschiebung der politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in Israel befeuert hat. Mit Sorge blicken wir auch auf die Macht der Hamas, die in keinster Weise als Repräsentantin der gesamten palästinensischen Bevölkerung angesehen werden darf. Beides sind Faktoren, die den Frieden in Nahost blockieren. Klar ist für uns, dass ein Bestandteil auf dem Weg zu gerechtem Frieden in dieser Region die Kritik an der vorherrschenden israelischen Politik beinhalten muss, die wiederum streng zu trennen ist von einer Infragestellung jüdischen Lebens selbst. Wir wissen, dass diese Unterscheidung im Einzelfall schwer fällt, wir wissen, dass Linke nicht per sé immun gegen Antisemitismus sind und wir wissen, dass es israelbezogenen Antisemitismus gibt. Wir wissen, dass wir sensibel sein müssen, ohne grundsätzliche Fragen von Recht und Unrecht aus den Augen zu verlieren. Deshalb knüpfen wir an die progressiven internationalen Debatten an, die eine fortschreitende Verdrängung von Palästinenser:innen durch die israelische Siedlungspolitik zurückweist. [6] Und dazu gehören eben auch progressive israelische und palästinensische Akteur:innen, denen eine deutsche Linke zuhören muss und an denen sie sich orientieren sollte, anstatt die eigene vermeintliche moralische Überlegenheit zur Schau zu stellen. [7] Wer sich bei jeder Eskalation in Israel und Palästina reflexhaft in Israelfahnen hüllt, verliert jeden Hebel, um mit und in migrantischen Communities politische Kräfteverhältnisse zu verschieben und die tatsächlichen Ursachen der Gewalt zu bekämpfen. Er verliert auch jede Möglichkeit für antisemitismuskritische Sensibilisierung, gerade im Kontext der deutschen Geschichte. Wenn die reale Unterdrückung der Palästinenser:innen geleugnet wird, eröffnet dies reaktionären und offen faschistischen und antisemitischen Gruppen sich als einzig glaubhafte Partner:innen der Palästinenser:innen zu inszenieren und ihr ekelhaftes Weltbild auf eine breitere Basis zu stellen. Deshalb müssen wir Analysen anbieten, die die Wurzel des Konflikts erfassen, linke und kritische Anknüpfungspunkte schaffen und politische Lösungen suchen, die auf ungerechte und kontraproduktive Pauschalisierungen und Beschuldigungen verzichten. 

Wir sind erschöpft von der Debatte und traurig über die Verachtung und Missgunst, die den jüdischen und palästinensischen linken Stimmen in Deutschland entgegengebracht wird. Wir sind enttäuscht über das Schweigen zahlreicher linker Akteur:innen in Leipzig über die aktuelle Situation und wütend über die zum Teil grausigen Debatten hierzulande. Der Besuch von Teilen unserer Gruppe auf einer palästinensischen Demonstration für Frieden, gegen Vertreibung und Besatzung steht keineswegs im Widerspruch mit der Solidarisierung gegenüber den Opfern antisemitischer Gewalt in Israel, noch mit einem konsequenten Kampf gegen Antisemitismus in Deutschland. Wir stellen uns gegen jede Form von Antisemitismus, ob in Form des Verbrennens israelischer Fahnen, von Steinen gegen Synagogen oder der Gewaltandrohung gegenüber jüdischen Menschen in Deutschland. [8] Diskriminierung, Unterdrückung und Krieg dürfen nicht unwidersprochen bleiben und für uns ist klar, dass das beste Gegenmittel nur der Aufbau einer starken migrantischen, antirassistischen und antisemitismuskritischen Linken sein kann. 

»Last but not least, I would like to remind the people who will join the other demonstration with the Israeli flags and the IDF Tshirts: Questioning the moral intention of the Israeli state is not Antisemitism, but canceling the voices of Jewish people because they don’t fit the Zionist narrative you all really like because it helps you sleep at night instead of talking to your grandparents – this is Antisemitism.«

Aus der Rede einer jüdisch-israelischen Aktivistin auf der Kundegbung #SaveSheikhJarrah.

Für weitere Informationen:

[1] »Mehr als ein paar Häuser.« Zur Bedeutung Sheikh Jarrahs und den Zwangsräumungen, 12.05.21.

https://www.medico.de/blog/mehr-als-ein-paar-haeuser-18183

[2] »Bist du Jude?« Interview mit dem deutsch-israelischen Autor Yossi Bartal, 16.05.2018

https://www.freitag.de/autoren/elsa-koester/bist-du-jude

[3] LVZ Demoticker, 15.05.21. 

https://www.lvz.de/Leipzig/Polizeiticker/Polizeiticker-Leipzig/Antisemitische-Parolen-bei-Palaestinenser-Demo-in-Leipzig

[4] »Meine Sorge sind die Vertriebenen.« Artikel zur Obdachlosigkeit durch die Bombardierung Gazas, 14.05.2021.

https://taz.de/Krieg-zwischen-Israel-und-der-Hamas/!5772318/

[5] Netanjahu’s Äußerung zur strategischen Rolle der Hamas, 07.05.2019.

https://mida.org.il/2019/05/16/%D7%9E%D7%99%D7%98%D7%95%D7%98-%D7%A9%D7%9C%D7%98%D7%95%D7%9F-%D7%94%D7%97%D7%9E%D7%90%D7%A1/

[6] Offener Brief von Wissenschaftler:innen und Kulturschaffenden gegen die Unterdrückung von legitimer Kritik an der israelischen Regierungspolitik, 28.07.2020. 

https://www.deutschlandfunkkultur.de/offener-brief-zum-antisemitismus-begriff-verengung-der.1013.de.html?dram:article_id=481391

[7] Demonstrationen an über 30 Orten jüdischer und arabischer Israelis gegen Krieg, Gewalt und Rassismus, 13.05.2021.

https://twitter.com/mekomit/status/1392875669177180162

The Israeli Information Center for Human Rights in the Occupied Territories

https://www.btselem.org/

Standing Together, Israel’s Jewish-Arab Grassroots Movement

https://www.standing-together.org/english

[8] »Wer Israelflaggen anzündet, ist nicht links.« Interview mit Gregor Gysi, 16.05.2021.

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/gregor-gysi-ueber-nahostkonflikt-wer-israelflaggen-anzuendet-ist-nicht-links-a-317c0afe-2276-4c7c-80b3-ca0bb9a27cca